
Strafen |
« zurück |
![]() |
Wie unser Erziehungsstil mit unserem Menschenbild zusammen hängt
Das Bild vom Menschen, das wir uns machen, und unser Denken darüber, wie unsere Kinder am besten erzogen werden, sind einem stetigen Wandel unterworfen. Unterschiedliche Menschenbilder gehen mit unterschiedlichen Erziehungsstilen einher. Diese Zusammenhänge werden ersichtlich, wenn wir hier - idealtypisch - drei Erziehungsstile und die diesbezüglichen Menschenbilder näher beschreiben:- den autoritären Erziehungsstil
- den antiautoritären Erziehungsstil und
- den kooperativen Erziehungsstil.
Was ist dabei jeweils das Verständnis von Strafe und Belohnung?
Der autoritäre Erziehungsstil
Dieser Erziehungsstil dürfte bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts am weitesten verbreitet gewesen sein und kann auch heute noch beobachtet werden. Etwas pointiert lässt er sich wie folgt charakterisieren: Das Kind wird als unwissend und faul wahr genommen. Es will nicht lernen und muss mit Maßnahmen von außen auf den rechten Weg geführt werden. Der Lehrer, die Eltern wissen, was gut für das Kind ist, und es wird nicht nach seiner Meinung gefragt. Am Tisch müssen Kinder schweigen, wenn die Erwachsenen reden. Gehorsam wird mit Zuckerbrot und Peitsche erzwungen. Behinderungen werden als Strafe Gottes angesehen. Und wenn Eltern ein behindertes Kind haben, ist das ihre Schuld.Mit diesem Erziehungsstil war viel Leid verbunden; in Erziehungsheimen wurden Kinder gequält und ausgenützt.
Im autoritären Erziehungsstil ist die Anwendung von körperlicher Züchtigung und Strafe üblich. Es scheint, als ob auch Pädagoginnen und Pädagogen ein Strafbedürfnis in sich trügen, das glauben macht, man könne zum Beispiel das Gewaltbedürfnis des Kindes durch Anwendung von Gewalt heilen. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren sich die meisten Pädagogen in ihren Schriften einig, dass Körperstrafen zur Charakterbildung unerlässlich seien. Auch Pestalozzi hatte nicht den geringsten Zweifel an dieser Sicht. Er befürwortete die Körperstrafe (Schifferli 1996) und stellte sich damit den Ansichten von Jean-Jacques Rousseau (neu: 1971) entgegen, der als erster den erzieherischen Wert der Strafe in Frage gestellt hatte.
Im Gefolge des Behaviorismus in den USA formulierte Burrhus F. Skinner die Lerngesetze, experimentell aus Tierversuchen abgeleitet: Erwünschtes Verhalten kann durch Verstärkung (auf ein bestimmtes Verhalten folgt eine positive Konsequenz) wahrscheinlicher gemacht oder "konditioniert" werden. Unerwünschtes Verhalten kann durch "Bestrafung" (auf ein bestimmtes Verhalten folgt eine negative Konsequenz) weniger wahrscheinlich gemacht werden. Skinner ging davon aus, dass diese Lerngesetze auch für menschliches Verhalten gelten.
Im Rahmen der Lehre zur Verhaltenstherapie und Verhaltensmodifikation hat die Kenntnis dieser Lerngesetze in der Praxis Verbreitung gefunden - und teilweise eine sehr simplizistische Anwendung erfahren.
Wie kontraproduktiv eine Anwendung dieser Lerngesetze, insbesondere des Operanten Konditionierens in der Form von Verstärkung im Kontext von Pädagogik sein kann, hat Al.e Kohn (1993) in seinem Buch "Punished by Rewards" sehr gut nachvollziehbar dargestellt. Eine Orientierung daran mag kurzfristig erwünschte Effekte zeitigen. Zugleich sind mittel- und längerfristig "Risiken und Nebenwirkungen" zu beachten:
- Verstärkung vernachlässigt die Bedingungen, die zu einem Verhaltensproblem geführt haben können.
- Wenn die Verstärkung vom Erzieher zurück gehalten wird, weil das Kind ein bestimmtes Verhalten nicht häu.g genug gezeigt oder eine bestimmte Leistung nicht erreicht hat, dann kann das vom Kind wie eine Bestrafung erlebt werden.
- Wenn die Verstärkung vom Erzieher zurück gehalten wird, dann kann dies die Beziehung zwischen Kind und Erzieher beeinträchtigen.
- Wenn der Erzieher einige Kinder verstärkt und andere nicht, dann kann dies die Beziehung zwischen den Kindern beeinträchtigen.
- Das Kind lernt für die Belohnung und nicht für sich und seine Entwicklung.
Dem autoritären Erziehungsstil liegt ein Menschenbild zu Grunde, das als überwiegend negativ oder de.zitfokussierend bezeichnet werden kann.
Das negative Menschenbild

Im autoritären Erziehungsstil haben Strafe und Belohnung eine psychologische Rechtfertigung. Man glaubt, dass dem Fehlverhalten des Kindes eine schlechte Absicht zu Grunde liegt und dass das Kind anders hätte handeln können, wenn es nur gewollt hätte. Man ist überzeugt, dass Verhaltensänderung nur über Zufügen von Leiden und Schmerz erzwungen werden kann. Es muss wehtun, damit etwas passiert: "No pain, no gain".
Zusätzlich zur Korrektur enthält die Strafe die Idee der Buße, der Sühne, der Vergeltung. Der Ausruf: ?Das musst du mir büssen!? spiegelt diese Haltung wider. Im Sinne einer ausgleichenden Gerechtigkeit und Kraft der Autorität wird dem Kind eine Strafe aufgezwungen. Wir glauben, dass diese Art von Erfahrung dem Kind vor allem eines lehrt: "Wenn ich grösser und mächtiger bin als der andere, kann ich ihn zwingen, das zu tun, was ich von ihm will."
Zwei Beispiele zeigen, wie sich - bei differenzierter Betrachtungsweise - Strafen als unsinnig und kontraproduktiv erweisen:
Lehrpersonen bemühen sich, in ihren Schulzimmern eine Atmosphäre zu schaffen, in der Kinder mit Freude und Begeisterung lernen. Was aber geschieht, wenn ein Kind zur Strafe einen Aufsatz schreiben oder zusätzliche Mathematikaufgaben machen muss? Fördert das seine Bereitschaft, sich schriftlich auszudrücken? Es gibt wohl kaum eine bessere Methode, um Kindern das Rechnen zu verleiden, als es ihnen in der Form von Strafe zu verpassen.
Oder im Sport (laut Tages-Anzeiger Zürich, Ausgabe vom 29. April 2005): Als der FC Zürich am Abend des 28. April 2005 gegen den FC Thun eine 1:5 Niederlage einsteckten musste, wurden die Spieler des FC Zürich nach ihrer Rückkehr zu einem nächtlichen Straftraining aufgeboten, wie der Tages-Anzeiger berichtete. Man ging offenbar davon aus, dass das miserable Resultat auf mangelnden Einsatzwillen, auf Faulheit zurückzuführen war und dass die Spieler durch diese Strafe aufgeweckt und motiviert werden müssten, härter zu trainieren und besser zu spielen. Es ist anzunehmen, dass dieses Straftraining das Gefühl der Spieler, Versager zu sein, verstärkt und das Vertrauen zum Trainer erschüttert hat. Sie hätten das Spiel in Thun wohl auch lieber gewonnen. Eine bessere Idee wäre gewesen, den Spielern die Videoaufzeichnung eines ihrer erfolgreichen Spiele zu zeigen ? ein Spiel, in dem sie lustvoll und begeistert gespielt hatten, um ihnen zu zeigen, dass sie "es" können. So hätten sie an ihre gute Leistungen anknüpfen können, zur Stärkung ihres Selbstvertrauens.
Wir sind der Überzeugung, dass der autoritäre Erziehungsstil und die damit verbundene Anwendung von Strafen nicht zum Menschenbild unserer Zeit passen. Es mag uns mit Strafen möglicherweise gelingen, das eine oder andere Verhalten zu unterbinden allerdings verbunden mit "Risiken und Nebenwirkungen": Wir erzeugen damit Widerstand und erreichen somit oft das Gegenteil von dem, was wir uns erhoffen. Insoo Kim Berg ist zu der Überzeugung gelangt: "Die natürliche Reaktion auf Zwang ist Trotz, Widerstand und der Wunsch, Kontrollversuche anderer zu untergraben. Menschen fühlen sich ihrer Würde beraubt, wenn sie es zulassen, kontrolliert zu werden." (zitiert nach de Jong und Berg, 1999, 99)
Der antiautoritäre Erziehungsstil
Es waren - zu Beginn des 20. Jahrhunderts - zwei Frauen, die eine Gegenbewegung einleiteten: Ellen Key (1902), Lehrerin aus Schweden und Maria Montessori (neu 2005), eine Kinderärztin aus Italien. Beide wollten Kindern, statt sie zu dressieren, die Möglichkeit geben, sich aus sich selbst heraus zu entwickeln. Montessori gab Pädagoginnen und Pädagogen den Rat, den Kindern den Raum und das Material zur Verfügung zu stellen und sie dann möglichst in Ruhe zu lassen.Ein zusätzlicher starker Impuls kam um 1960 von Summerhill, einem Hügel in der englischen Grafschaft Dorset, wo Alexander Neill (1970) sein Schulexperiment mit der antiautoritären Erziehung lebte. Er meinte: "Strafe ist immer ein Akt des Hasses". Er vertrat damit eine Auffassung ähnlich zu Albert Camus: "Strafe, die züchtigt, ohne zu verhüten, heißt Rache."
Strafen sowie jede Art von Zwang oder Einschränkung waren in Summerhill undenkbar. Die Mütter und Väter, Lehrerinnen und Lehrer, die Neill nacheiferten, verfügten aber häufg nicht über die Fähigkeiten und die natürliche Autorität ihres Vorbildes. Entnervt und enttäuscht kehrten viele von ihnen zu den traditionellen Erziehungsstilen zurück, so dass wir heute bei Umfragen immer wieder auf Aussagen wie: "Strafe muss sein!" stoßen.
Immerhin ist der Körperstrafe die Legitimation entzogen worden, nicht zuletzt deshalb, weil sie gesetzlich verboten wurde (Bundesgesetz und Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts vom Juli 2003).
Die Anwendung aller anderen Strafen, wie Isolierung, Entzug von Liebe und Zuneigung, Erzwingen von Arbeitsleistung wird aber weiter praktiziert und mit pädagogischen Argumenten gerechtfertigt, was einem Rückfall in den autoritären Erziehungsstil gleichkommt. Für die Herausforderungen des 21. Jahrhundert und für die Erziehung dafür sind aber neue Ideen und Konzepte gefragt.
Der kooperative Erziehungsstil
Die offensichtliche Erziehungsunsicherheit der heutigen Zeit dürfte zumindest teilweise auf den Misserfolg der antiautoritären Erziehung zurückzuführen sein. Diese war ja mit der Hoffnung verbunden, der Mensch könne sich ohne Zwang und aus der Freiheit heraus zu seinem Guten entwickeln.Derzeit kommt neue Hoffnung von Strategien, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert entwickelt wurden. Wir fassen diese unter dem Begriff des kooperativen Erziehungsstils zusammen. Wie der antiautoritäre Stil beruht auch er auf einem positiven oder stärken?fokussierenden Menschenbild.
Das positive Menschenbild

Das stärken-fokussierende Menschenbild des kooperativen Erziehungsstils geht von Annahmen wie den folgenden aus: Kinder und Jugendliche sind, wohl stärker als viele dies bislang wahrgenommen und erforscht haben, Akteure ihrer eigenen Entwicklung. Sie setzen sich mit ihrer Umwelt aktiv auseinander. "Indem sich das Denken den Dingen anpasst, strukturiert es die Dinge. Und indem es die Dinge strukturiert, strukturiert es sich selbst." (Piaget, 1989, 18). So machen sich Kinder und Jugendliche ein Bild von der Welt, in der sie leben; von den Dingen, die sie nicht verändern können und die so bleiben; und von denDingen, die sie verändern können. Durch die Erfahrung dessen, was sie verändern können, entwickeln sie Selbstwirksamkeitsüberzeugungen, was wir als Selbstbewusstsein wahrnehmen mögen.
Gemäß einem kooperativen Erziehungsstil geht es darum, Kinder und Jugendliche in diesem Entwicklungsprozess zu unterstützen. Dies geschieht im Dialog. Man redet mit den Kindern, erkundigt sich nach ihrer Sicht, regt sie zum Weiterdenken an und entscheidet gemeinsam mit ihnen.
Die Freinet?Pädagogik (1998), Martin Bubers (1969) Reden über Erziehung, Thomas Gordons (1994) Familienkonferenz, Rosenbergs gewaltfreie Kommunikation (2002) und Steve de Shazers (1991) lösungsorientiertes Modell haben diese Entwicklung ? insbesondere auch unser Denken und Handeln ? mitgeprägt.
Wir selbst arbeiten seit etwa 1990 in Orientierung an einem lösungsorientierten Modell (Baeschlin und Baeschlin 2004; Spiess 1998). Dabei haben wir uns insbesondere von Steve de Shazer und Insoo Kim Berg inspirieren lassen. Sie hatten ein solches für den Kontext der Therapie entwickelt. Wir haben es, soweit nützlich, auf den Kontext der Pädagogik übertragen. Bei unserer lösungsorientierten Pädagogik gehen wir von folgenden Annahmen aus:
- Das Kind ist Experte für seine eigene Entwicklung.
- Wir Pädagogen sind "Entwicklungshelfer".
- Die pädagogischen Hilfsmittel sind Dialog und Kooperation.
Wesentliche Denk- und Handlungsmuster des kooperativen Erziehungsstils
Das Leben, alles Leben spielt sich in einem gewissen Rahmen ab. Menschen entwickeln für dieses Zusammenleben gewisse implizite und explizite Regeln. Diese sind von Land zu Land, von Familie zu Familie und von Schulklasse zu Schulklasse verschieden. Manches läuft so ab, als ob Regeln vereinbart worden wären - also implizit. Manches, besonders in der Schule, läuft nach Regeln ab, die explizit von jemandem aufgestellt worden sind - am häufgsten wohl von Lehrpersonen und Eltern.Regeln können auch mit den Schülerinnen und Schülern vereinbart, insbesondere verhandelt worden sein. Die Erfahrung lehrt, dass Regeln am ehesten akzeptiert und eingehalten werden, wenn sie nachvollziehbar begründet, oder noch besser: mit dem anderen fair verhandelt worden sind.
Man kann nicht zusammen Fußball spielen, ohne sich über Regeln geeinigt zu haben. Allerdings: Wir können nicht davon ausgehen, dass Regeln immer eingehalten werden. Darum bedarf es eines Schiedsrichters, der ein Signal gibt, um den Regelverstoß bewusst zu machen.
Wenn Kinder Abmachungen nicht einhalten oder gegen Regeln verstoßen, insbesondere wenn dadurch Schaden droht, muss eine Reaktion des verantwortlichen Erziehers folgen. So kann das Kind das eigene Verhalten als Regelverstoß erkennen. Wenn dieses Signal rechtzeitig erfolgt, vermag das Kind sein Verhalten möglicherweise noch zu ändern. Wenn der Hinweis nachträglich erfolgt, kann es aus dem Vorfall lernen.
Wir gehen im Sinne einer positiven Zumutung davon aus, dass der Regelverstoß eines Kindes nicht auf Bosheit oder Rücksichtslosigkeit zurückzuführen ist, sondern eher auf einen Mangel an Kontrolle, Wissen und Erfahrung. Wir glauben, dass das Kind für sein Verhalten immer gute Gründe hat. Jedes Verhalten ist ein Lösungsversuch.
Auch Lügen oder Drogenkonsum sind nicht destruktiv gedacht; sie sind es erst in ihren Auswirkungen. Die Jugendlichen handeln so, weil sie im Moment davon überzeugt sind, dass dies die beste Handlungsweise sei. Sie handeln so, weil sie nicht wissen, wie und was sie anders tun könnten. Was als Regelverstoß erscheint, kann auch als Lösung, die nicht funktioniert, gesehen werden.
Ein solches Verhalten von Kindern und Jugendlichen ist also gut gemeint, wirkt sich aber nicht gut aus. Darum darf ein solches Verhalten nicht bestraft werden. Vielmehr sollte es als Anlass genommen werden, um zusammen mit dem Kind Vorstellungen von anderen Verhaltensmöglichkeiten zu entwickeln. Dabei orientieren wir uns an der lösungsorientierten Idee: Wenn etwas nicht funktioniert, mach etwas anderes! Wir propagieren Maßnahmen, die alte Muster verändern, nicht verstärken. Als die erfolgversprechendsten Maßnahmen haben sich in unserer Arbeit diejenigen erwiesen, die das Kind in Zusammenarbeit mit uns ausgedacht hat.
Der kooperative Erziehungsstil in der Praxis
Nach unseren Erfahrungen im Umgang mit Kindern und Jugendlichen lohnt es sich, gewisse alltäglich wiederkehrende Situationen im Detail zu durchdenken und gewisse Routinen zu entwickeln. Sie erleichtern uns das Leben im Kontext von Erziehung.Im Sinne solcher Routinen haben wir "Regeln für Erwachsene, wenn Kinder Regeln nicht einhalten" formuliert. Diese sollen Eltern, Lehrern und Pädagogen helfen
- die eigenen Emotionen hinreichend unter Kontrolle zu halten,
- von Strafen und Sanktionen, die sich im nach hinein als nicht praktikabel oder kontraproduktiv erweisen, Abstand zu nehmen,
- und so in schwierigen Situationen handlungsfähig zu bleiben.